Welche spirituellen Räume brauchen wir für unsere heutige Zeit?

Tischrede beim Frauenmahl der Reformierten Kirche Zug und Frauenkirche Zentralschweiz am 5. März 2016

Liebe Frauen hier in Zug,

zunächst herzlichen Dank für die Einladung hierher zu kommen und zu Ihnen sprechen zu dürfen.

Ich durfte mir mein Thema selbst auswählen und so habe ich mir ein Herzensthema ausgesucht, wenn ich jetzt in meiner Tischrede mit Ihnen über die Frage nachdenken will, „welche spirituellen Räume wir für unsere heutige Zeit brauchen.“

Es ist ein Thema, bei dem ich letztlich mehr Fragen als Antworten habe.
Ganz ehrlich, ich habe die Hoffnung, dass in einem Forum wie diesem hier wieder ein Stück weiter gedacht wird, und wir uns gegenseitig inspirieren können, wie meine Antwortversuche mit Leben gefüllt werden können.

Warum ist mir das Thema so wichtig?
Natürlich auch, weil ich selbst immer noch und immer wieder Suchende und Ausprobierende bin, und dabei dann immer wieder an meine, dann aber auch an institutionelle Grenzen stoße.

Brennend wurde mir das Thema allerdings in den letzten Jahren v.a. deshalb, weil ich in meiner Arbeit tagtäglich darauf gestoßen werde. Ich treffe dort auf Menschen, die zerrieben werden zwischen auf der einen Seite ihren inneren Leistungsansprüchen und Bedürfnissen nach Anerkennung, Wertschätzung, Selbstbestätigung oder auch Macht, und auf der anderen Seite Organisationen, die in permanenten Optimierungsprozessen stecken.
Diese werden völlig rücksichtslos durchgezogen gegenüber den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und deren Bedürfnissen nach Routinen und Beständigkeit oder auch gegenüber deren Grenzen der Belastbarkeit oder zeitlichen Beanspruchung.
Das Fatale daran ist, dass die Organisationen dabei oft hoch manipulativ die Mitarbeitenden unter einen Selbstoptimierungszwang stellen.
Am Ende ist so nicht die Organisation, die für eine zunehmende Arbeitsverdichtung sorgt, „Schuld“ am Burnout, sondern die betroffene Person selbst, die eben nicht schnell genug ist, oder nicht genügend strukturiert, die sich nicht genügend abgrenzen kann oder nicht fit genug ist im Zeitmanagement.

Wenn sie bei mir ankommen, erlebe ich Menschen, die sich oft nicht mehr spüren können, die völlig erschöpft und überfordert sind.
Ich erlebe Menschen, die wegen ihres Tinnitus im wahrsten Sinne nichts mehr hören wollen oder solche, die so sehr unter Strom stehen, dass sie nicht mehr runter kommen, nicht mehr entspannen können.
Ich erlebe Menschen, die nicht mehr bei sich sind, die gar nicht mehr wissen, was sie wollen, was ihnen gut tut. Die keine innere Freiheit mehr spüren, die ihr Leben als nicht mehr selbstbestimmt erfahren, die keine Handlungsspielräume mehr sehen können und die allzuoft keinen Sinn mehr finden können in ihrem Dasein.

Heute mehr denn je lässt sich wohl das von Victor Frankl beschriebene Leiden an einer tiefen Sinnlosigkeit und lähmenden Leere als die Krankheit unserer Zeit diagnostizieren.

Wer bei mir ankommt, ist an einem Punkt angelangt, an dem er oder sie weiß, dass es höchste Zeit ist, die Reißleine zu ziehen.
Das ist der eine Hintergrund für mein Thema.

Zum anderen bewegt mich die Frage nach den spirituellen Räumen aber auch, weil ich mich im Ehrenamt als Mitglied des Kirchenvorstandes meines Heimatorts damit beschäftige, wie wir als Kirchen eine Antwort auf diese Not, die ich eben beschrieben habe, geben können.

Es besteht für mich kein Zweifel daran, dass ein anderes gesellschaftliches Phänomen, in unmittelbarem Zusammenhang steht mit den beschriebenen Erfahrungen von Selbstentfremdung und Überforderung.

Es wird in zahlreichen Untersuchungen immer wieder beschrieben – und es passt zu meiner und vielleicht ja auch Ihrer Beobachtung, dass es ein wachsendes Interesse an spirituellen Erfahrungen gibt, dass viele Menschen ein Bedürfnis nach einer Beziehung zu dem, was wir Gott nennen, nach Religiosität und Spiritualität benennen.
Das sind zwei Seiten einer Medaille, die hier beobachtet werden können.

Dieses wachsende Interesse an spirituellen Erfahrungen wird aber nach meiner Wahrnehmung in den traditionellen Kirchen oder religiösen Institutionen nicht aufgegriffen.
Vielmehr führt das Festhalten der Kirchen an überkommenen Bekenntnisse und an ihrem Anspruch, vorzugeben, was zu glauben ist und welche Glaubenspraxis die Richtige ist, dazu, dass spirituelles Leben v.a. außerhalb der Kirche bzw. den traditionellen religiösen Institutionen gedeiht.

Ganz ehrlich, es macht mich traurig und auch wütend, dass es uns als Kirchen nicht gelingt, Antwort zu geben auf diese spirituellen Bedürfnisse der Menschen. Und eine Ursache dafür, dass es nicht gelingt, sehe ich tatsächlich in der fehlenden Reformbereitschaft der Kirchen und ihrer Vertreter und in der Verharrung in vielerlei Ängsten.

Da gibt es die Angst vor dem Verlust der Deutungshoheit, die oft als das Gespenst der Beliebigkeit des Glaubensinhalts getarnt wird. Diese Angst führt dazu, dass Menschen jenseits traditioneller Bindungen an die Kirche nicht angesprochen werden.
Sie führt dazu, dass wir ihnen keine Möglichkeiten und Räume anbieten für persönliche spirituelle Erfahrungen, auch auf die Gefahr hin, dass diese sich vielleicht ganz anders darstellen als das, was die Kirche oder auch unsere eigene religiöse Sozialisation zu Glauben vorschreibt.

Es ist eine Angst vor der Vielfalt, die die eigene Praxis relativieren, und sie infrage stellen könnte.
Wie kleingläubig sind wir doch in solchen Fragen, dass wir dem Göttlichen vorschreiben wollen, wie und auch von wem es sich erfahren lässt.

Das schlimme daran: Wir blenden dabei bewusst oder unbewusst diejenigen Traditionen in unserer Geschichte aus, die genau das bieten, was im wahrsten Sinne des Wortes heute not-wendig wäre.
Wie sagte doch kürzlich eine Kollegin nach einem Achtsamkeitsseminar zu mir, in dem sie die Lehre des Dalai Lama und die Kultur des Ostens als Ursprung dieser Innenschau beschrieb: Ich weiß wohl, es gibt in der christlichen Tradition auch die Mystiker, aber diese Tradition wird nirgends aufgegriffen und mit Leben gefüllt. Also wende ich mich dem Buddhismus zu.

Und dann gibt es in unseren Kirchen noch eine zweite große Angst, dass es nämlich bei diesen spirituellen Bedürfnissen doch nur um Selbstverwirklichung gehe. Die Abwehr der als Selbstfindungstrip denunzierten Praxis verstellt den Blick darauf, dass erst dort, wo Menschen in ihrem tiefsten Innern bei sich selbst ankommen, sie sich ihrer auch abhängigen Existenz bewusst werden können.
Dass erst dort im „bei sich ankommen“ im wahrsten Sinne das Göttliche seinen Raum erhalten kann bzw. Gotteserfahrung stattfinden kann.
„Welche spirituellen Räume brauchen wir für unsere Zeit?“
Ich will eine Antwort versuchen:
Wenn die große Not unserer Zeit ist, dass wir uns nicht mehr spüren, dass wir nicht mehr bei uns – atemlos sind – , dann brauchen wir Räume, in denen das möglich ist:
Wir brauchen Orte, an denen wir zu uns und zur Ruhe kommen, in denen wir Atem holen können.
Das Bild des Atemholens erinnert mich an die Schöpfungsgeschichte. Der Mensch ist atmendes Leben, weil Gott seinen Lebensatem in ihn hineinbläst. Gottes Atem in jeder von uns – jedes automatische Ein- und Ausatmen, jedes Heben und Senken des Brustkorbes – Gott atmet in uns.

Zuschauen, wie es in mir atmet ist eine spirituelle Praxis nicht nur der Zenmeditation, sondern sie ist auch im Herzensgebet der Mystik überliefert. Mit dem Atem verbunden zu sein, heißt ganz bei sich zu sein im Hier und Jetzt und sich spüren zu können als geistiges, als von Gott beseeltes Wesen.
Aber sagen Sie mir, wo findet eine solche Praxis Raum in unseren Institutionen. Ich erlebe sie höchstens noch in der Abgeschiedenheit klösterlichen Lebens, das wahrscheinlich deshalb auch einen solchen Run erlebt und für viele eine große Anziehungskraft hat.

Mein Wunsch ist: Lassen Sie uns diese Praxis in den persönlichen Alltag und in unsere Kirchen vor Ort hineinbringen. Haben wir doch den Mut, unsere Liturgien zu entstauben, sie auf den Prüfstand zu stellen, ob sie den Anforderungen der heutigen Zeit noch gerecht werden – und sie dann zu reformieren, so dass am Ende der Lebensatem Gottes in uns zu Atem kommen kann.

Dann brauchen wir zweitens Räume, in denen wir Menschen uns auf eine gute und angenommene Weise als leib-seelische Wesen erfahren können. Gestalten wir deshalb leibfreundliche Räume, in denen es am Ende nicht heißt: „Ich habe heute leider kein Foto für dich.“ In denen statt dessen unsere Leiblichkeit positiv wahrgenommen wird, in denen wir lernen können, uns selbst anzunehmen, so wie wir sind. In denen wir uns unserer Leiber freuen dürfen, ob sie nun dünn oder dick, kurz oder lang sind, ob unsere Haut nun glatt oder runzlig ist, ob wir nun glänzende Farbe im Haar haben oder grau sind. Wie entlastend ist es zu hören: Genau so, wie du bist, bist du ein göttliches Geschöpf, zu dem wir sprechen: Sieh hin, du bist sehr gut!

Ich wünsche mir unsere Kirchen als Räume, in denen wir es uns und anderen erlauben, wieder in uns hineinzuhorchen und ich bin zutiefst überzeugt, dass wir alle dabei die Erfahrung machen, dass wir zu guten und wahren Erkenntnissen über uns und das Göttliche gelangen. Erkenntnisse, über die wir uns dann austauschen die wir als Bereicherung erfahren können.

Was wir nicht brauchen, sind weiterhin Kirchen, in denen schon wieder bzw. noch einer sagt, was wir zu denken haben, wie wir zu leben und wen wir zu lieben haben, was wir tun und was wir lassen sollen.
Vielleicht ist das die größte Herausforderung für uns als Kirchen: nicht mehr zu predigen, dem anderen nicht mehr zu sagen, was gut und böse ist, ihn nicht mehr darüber zu belehren, was richtig und falsch ist, dem anderen zuzutrauen, dass er es selbst erkennen kann.
„Cognitio dei experimentalis“ nannte es die mittelalterliche Theologie, die experimentelle Erkenntnis Gottes, das Vertrauen darauf, dass sich das Göttliche in der Erfahrung mitteilt.

Reformiert euch, so dass wir für alle zu Gemeinschaften werden, in denen sich ein Mensch als Person angenommen fühlen kann, ohne dass er sich Liebe durch Leistungen –und seien es die der religiösen Praxis – oder ein bestimmtes So-Sein erkaufen muss. In denen er bei sich und dann auch beim Göttlichen ankommen kann, Atem schöpfen kann, ins Hören kommen kann.

Vielleicht müssen wir diese Praxis für uns selbst und als Kirchen erst einmal selbst wieder einüben und mit Leben füllen. Vielleicht ist genau das die zweite große Herausforderung: uns selbst auf den Weg zu machen. Denn wer weiß, was wir beim Blick nach Innen sehen und erleben werden.

Ich möchte schließen mit einer ganz kleinen Übung aus dem Achtsamkeitstraining:
Wenden Sie sich bitte ihrer Nachbarin zu – und stellen Sie sich nochmals vor mit den Worten: ich bin z.B. Brigitte.
Aber bitte, halten Sie zwischen dem „ich bin“ und ihrem Namen ein klein wenig inne, nur zwei, drei Atemzüge. Ich bin……. Brigitte. Spüren Sie während dieses Innehaltens in sich hinein, vielleicht mögen Sie, um es zu erleichtern, die Hand auf die Brust legen, nehmen Sie wahr, was in Ihnen vorgeht.
Versuchen Sie es…..erst die eine, dann die andere…..
(… Übung)

Ich bin…. geschaffen, geliebt, befreit, umworben, begabt, beschenkt, gesehen, umfangen, beseelt, und Gegenüber des Göttlichen.
Tut es euch gut, ist es schön, das zu spüren? Dann gestaltet an eurem Ort und in eurem Alltag Räume für diese Erfahrung!

Vielen Dank!

Mehr zum Frauenmahl? www.frauenmahl.de

Ein Kommentar to “Welche spirituellen Räume brauchen wir für unsere heutige Zeit?”

  1. Anita Schwenkedel said:

    Mrz 07, 16 at 14:40

    wow !!! 🙂


Hinterlassen Sie eine Antwort