Selbstwahrnehmung – Fremdwahrnehmung

Sich dem Selbst anzunähern ist wie eine Entdeckungsreise. Und mancher, der sich auf diese Reise begibt, fühlt sich vielleicht wie Christoph Kolumbus. Denn oftmals kommen vielleicht geahnte, erwünschte, oftmals aber auch sehr unerwartete Erfahrungen zustande:

Wer bin ich denn überhaupt? Was macht mich aus? Welche Eigenschaften? Welche Fähigkeiten? Welche Werte? Welche Emotionen? Welche Charakterzüge? Bin ich die Summe meiner Wünsche, meines Willens, meines Bedürfnisses nach Ästhetik oder Harmonie, meines Glaubens oder meiner Spiritualität? Bin ich die Rolle, die ich täglich spielen muss?

Gibt es einen Kern, der stabil ist und dann ein Äußeres, das sich verändern kann. Bin ich abends noch die gleiche, die morgens aufgestanden ist?
Die Frage danach, wer ich bin, ist wahrscheinlich so alt wie die Menschheit, so alt, wie Menschen aufgrund ihrer Sprache selbstreflexiv über sich nachdenken können.

Wo aber findet sich eine Antwort auf diese Frage? Schauen Sie in den Spiegel, so sehen Sie stets sich – und dazu noch stets „spiegelverkehrt“ und oft verzerrt. Ihre Augen blicken dabei auf Gewohntes.
Es gibt von mir auf mich keinen objektiven Blick und deshalb fällt es so schwer, allein aus der Selbsterkenntnis heraus Veränderungen im eigenen Leben zu bewirken.

„Der Mensch wird am Du zum Ich“, sagt Martin Buber. Dieser Gedanke weist darauf hin, dass wir als Menschen in unserer Selbstwahrnehmung, in dem, was wir selbst über uns denken, wie wir glauben zu sein und wie wir uns fühlen, stets auf andere Menschen angewiesen sind.

Wir brauchen den fremden Blick, um uns selbst erkennen zu können, die Reaktion auf unser Verhalten, um zu erfahren, welches zielführend ist und welches eher unangemessen.
Wir brauchen ihn auch, um die „blinden Flecken“ anschauen zu können und mit ihnen umzugehen. Diese „blinden Flecken“, das sind die oftmals eher unangenehmen und ungewollten Eigenschaften und Merkmale, die nicht ins Selbstbild integriert sind und deren Wahrnehmung schwer fällt, weil sie eine Aufforderung darstellen, sich weiter zu entwickeln und zu lernen.

Den fremden Blick, die Fremdwahrnehmung, bekommen Sie nur im Feedback durch andere. Ich plädiere sehr für eine „Hol-Kultur“ beim Feedback. Nicht nur, weil Sie dadurch selbst bestimmen können, wann Sie ein Feedback bekommen, Sie bestimmen auch, von wem Sie es bekommen und Sie können zudem ggf. auch vorher bestimmen, auf welchen Aspekt Ihres Verhalten Ihr Feedbackgeber seine Aufmerksamkeit richten soll.

So können Sie sukzessive Ihr Selbstbild anreichern mit „fremden Blicken“. Wenn Ihnen dann konstruktives Feedback gegeben wird, hilft dies, die Selbstwahrnehmung zu verbessern, das Verhalten zielgerichtet zu steuern, es fördert persönliche Lernprozesse und motiviert.
Und weil Feedback eine sehr „intime“ Weise ist, sich über den anderen zu äußern, wird darüber hinaus die Beziehung zwischen Feedbackgeber und –nehmer nachhaltig vertieft.

Die solche Feedbackkultur richtet sich natürlich nach ganz anderen Gesetzen als die, die als Teil der unternehmerischen Personalführungs- und –entwicklungspraxis alltägliche Erfahrung ist. Vielen von Ihnen ist diese sicher als ein mehr oder weniger angenehmes Ritual vertraut: Häufig wird sie verpackt in sogenannten Jahresmitarbeitergesprächen. Die Rückmeldungen, die ich zum Gelingen dieser Gespräche erhalte, lassen mich daran zweifeln, ob die im Feedback enthaltenen Chancen zur positiven Beeinflussung des Arbeitsverhaltens und der Motivation tatsächlich zum Tragen kommen können.

Die Kriterien für ein gutes Feedback werden durch Jahresmitarbeitergespräche nun mal so gar nicht eingehalten. Ein gutes Feedback betrifft konkret, klar und pointiert eine ganz bestimmte Situation, es wertet nicht, sondern beschreibt. Es bezieht sich dabei stets auf das Verhalten und nicht auf den Charakter. Und soll ein Lerneffekt und auch eine Verhaltensänderung erzeugt werden, dann wird es so zeitnah wie möglich gegeben – oder eben erbeten. Zeitnah, das heißt Minuten, Stunden, höchstens mal wenige Tage – und nicht Monate. Ein Lob nach Wochen hat keine verhaltensverstärkende Wirkung mehr, weil die gelobte Leistung gar nicht mehr damit verknüpft wird. Emotional passiert da nichts mehr. Das gleiche gilt für Kritik und Verbesserungsvorschläge.

Ich bin eine bekennende Befürworterin einer intensiven Feedbackkultur, bietet sie doch wie keine andere Methode die Chance, sich „on the job“ weiter zu entwickeln und zu lernen.
Wie konstruktives Feedback ganz konkret formuliert werden kann, so dass es auch wirklich diesen Nutzen bringt, können Sie bei einem meiner Vorträge erfahren oder aber in meinen Workshops üben.

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